Stanley Kubrick und Freudsche Psychoanalyse

Stanley Kubrick und Freudsche Psychoanalyse

Seminararbeit „Freudsche Psychoanalyse in Stanley Kubricks ‚Eyes Wide Shut‘ im Hauptseminar „Clash of Realities. Transrealität, Virtualität und Medienrealität im Spielfilm.“ Wintersemester 2010/2011, Universität Augsburg, Dozent: Prof. Dr. Thomas Hausmanninger.


[Spoiler-Warnung!]

1  Einleitung
Stanley Kubricks erfolgreicher, wenn auch umstrittener [1] letzter Film EYES WIDE SHUT (1999) deutet schon in seinem rätselhaft paradoxen Titel einen Konflikt an, der schwer zu fassen ist: Möchte hier jemand die Augen „weit öffnen“ und es gelingt ihm nicht, oder werden die Augen vor einer unbefriedigenden Realität bewusst verschlossen? Die Frage nach dem Unterschied zwischen Wirklichkeit bzw. „Wachsein“ und Traum ist zentral für den Film und seine Hauptprotagonisten Bill (Tom Cruise) und Alice (Nicole Kidman). Diese müssen sich mit den eigenen Träumen und sexuellen Wünschen auseinandersetzen, um einen Ehekonflikt zu bewältigen, mit dem beide im frühen Verlauf des Films konfrontiert werden [2]. Ob ihnen das gelingt bleibt offen und liegt im Auge des Betrachters, denn am Ende des Film steht ein philosophischer Abschlussdialog von Bill und Alice über die Bedeutung von Sexualität, Kontrollverlust, Liebe, Wahrheit, Traum und Realität. Diese Thematiken sind nicht erst seit EYES WIDE SHUT zentral in Kubricks Werk (Ruschel, 2002, S.8ff).
Der eben angedeutete letzte Dialog des Films stammt fast unverändert aus Arthur Schnitzlers TRAUMNOVELLE von 1925, der Romanvorlage für den Film. Sie entstand zu einer Zeit, in der vermehrt gesellschaftliche Tabu-Themen wie Sexualität und Tod angesprochen wurden. Schnitzler war dabei auch von Sigmund Freud und dessen Psychoanalyse inspiriert, wenngleich er an einigen Stellen zu widersprechen wagte (Reik, 1993, S.12). Freud hatte sich in seinem Werk zu Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv mit der (Be-)deutung von Träumen und Sexualität auseinandergesetzt. Durch diese indirekte Verbindung lässt sich Kubricks Film auch als psychoanalytische Charakterstudie lesen: Nach einer Diagnose von verdrängter und problematisch ausgelebter Lust finden die beiden Partner Bill und Alice über Umwege zur freien Aussprache, welche Voraussetzung für eine Heilung ist. Wie schon in der Figur des „Alex“ in Kubricks CLOCKWORK ORANGE (1971) scheitert im Vorfeld das zelebrierte Ausleben von Sexualität (sowie Brutalität) an gesellschaftlichen, zwischen-menschlichen und in EYES WIDE SHUT vor allem psychologischen Grenzen.
Im Verlauf dieser Kurzarbeit sollen Freudsche Elemente in EYES WIDE SHUT herausgearbeitet werden. Wie bereits dargelegt bestehen inhaltlich-thematische Verbindungen, sodass sich der spekulative Charakter der Ausführungen begrenzt. Im Anschluss bietet es sich an, Parallelen zwischen der kritischen öffentlich-gesellschaftlichen Rezeption von Freud und Kubrick zu ziehen.
2  Grundlagen der Psychoanalyse Sigmund Freuds
Um in dieser Arbeit Bezüge zwischen dem Film EYES WIDE SHUT und dem Werk Sigmund Freuds herstellen zu können, werden zunächst grundlegende Konzepte der Psychoanalyse vorgestellt. Es wurde bei der Auswahl kein Wert auf Vollständigkeit gelegt, sondern vor allem auf Relevanz für die anschließend folgende Anwendung auf den Film.
2 .1 Der Psychische Apparat nach Freud
Freud beschrieb die menschliche Psyche anhand von drei Begriffen: „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ (1923, S.291ff). Das „Es“ ist von einfachen Umweltreizen beeinflusst. Alle Handlungen, die von ihm ausgehen, geschehen nach dem Lust-Prinzip. Eigene Bedürfnisse, Affekte, Begierden, Triebe und Phantasien stehen im Vordergrund und bleiben nach Freud unbewusst (ebd., S.291). Das „Ich“ hingegen, als unser Verstand, betrachtet die Forderungen des „Es“ kritisch und reagiert bewusst auf diese. Dadurch kontrolliert es das Verhalten und tritt für Triebverzicht oder -aufschub ein. Das „Ich“ funktioniert nach dem Realitätsprinzip (ebd., S.294) und ist sich auch den Forderungen des „Über-Ichs“ bewusst. Dieses wiederum repräsentiert alle gesellschaftlichen Ge- und Verbote, Wert- und Normvorstellungen, die von einer moralischen Instanz an das Individuum herangetragen werden (ebd. S.297). Die drei Instanzen und ihre Beziehung zueinander sind in Abbildung 1 veranschaulicht.

Abb 1. Der Psychische Apparat nach Freud. Quelle: Zenz, 2010
Freud ging grundsätzlich davon aus, dass mit dem „Es“ ein „angeborene Neigung des Menschen zum Bösen“ (Freud 1930, S.479), also zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit existiert. Dieser Destruktionstrieb findet seine Kontrolle in den moralisch-normativen Forderungen des „Über-Ichs“.
2 .2 Die Technik des Freien Assoziierens
Eine Technik, die auch in den Traumdeutungen Freuds (siehe v.a. Freud, 1889) Anwendung findet, ist das so genannte „freie Assoziieren“. Dabei schildert ein Patient „alles was [er] gerade erlebt und in sich wahrnimmt, was in [ihm] geschieht: im Körper, in den Empfindungen und Gefühlen, in den Erinnerungen und Wünschen, in den Vorstellungen, der Phantasie und im Denken“ (Sponsel, 2001). Diese Schilderung kann entweder völlig ohne Vorgabe geschehen oder ausgehend von einer Anregung, bspw. einer vagen Erinnerung an einen Traum (ebd.). Ziel ist es dabei, auch scheinbar sinnlose Gedankengänge zu äußern, die sonst kaum bewusst sind bzw. verdrängt werden. Freud beschreibt dies folgendermaßen:
„[…] Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dies oder jenes gehört nicht hier her, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspüren.“
Freud, 1923, S.194
Inspiriert durch das Schaffen Freuds und anderer Psycholoanalysten, haben auch Künstler zu Beginn des 19. Jahrhunderts Techniken entwickelt, die sich an das freie Assoziieren anlehnen. So bezieht sich bspw. der französische Surrealist André Breton direkt auf Freud, wenn er die Technik des automatischen Schreibens („Écriture automatique“) erläutert (vgl. Polizzotti, 1996). Analog zur psychoanalytischen Behandlungsmethodik soll sich dabei das Denken als ein innerer Monolog äußern, der „ohne jede Kontrolle durch die Vernunft“ geschieht (Breton, 1924). So erhofften sich die Surrealisten die Förderung einer neuen Art von Kreativität, die sich besonders auf Unbewusstes und Traumhaftes bezieht. Dies äußerte sich auch in der bildenden Kunst, wo die Surrealisten, allen voran Dali oder Miró, durch ihre stark assoziative, traumhaft anmutende Malweise auffielen (siehe Abb. 2).

Abb 2. Salvador Dalí: „Der erhabene Augenblick“, 1938 Foto: vg bild-kunst, bonn

Das freie Assoziieren ist also neben einer Heilmethode auch eine „Kreativitätsmethode“ (Sponsel, 2001). In dieser doppelten Bedeutung wird es auch von Kubrick verwendet: Einerseits führt die freie Aussprache verdrängter Gedanken die Hauptcharaktere zur (möglichen) Heilung, andererseits macht die teils assoziativ-surreale formale und narrative Gestaltung des Films sein kreatives Potential aus. Im Folgenden möchte ich die Bezüge zwischen EYES WIDE SHUT und Freudschem Gedankengut vertiefen.
3  Anwendung Freudscher Konzepte in EYES WIDE SHUT
Kubrick verwendet die ihm zur Verfügung stehenden Mittel wie Bildgestaltung, Licht, Ton, Farbgebung, Kameraführung und Szenenarrangement, um den jeweiligen psychischen Zustand seiner Hauptprotagonisten zu unterstützen (3.1). Zudem werden irrationale Elemente in die Filmgestaltung und Handlung integriert (3.2).
3.1  Ausdrücke des Psychischen im Film
Was Schnitzler in der TRAUMNOVELLE an Worten nutzt, um die inneren Zustände der Charaktere des Romans darzustellen, findet bei Kubick Ausdruck in der Szenen- und Bildgestaltung. Zu Beginn seiner nächtlichen Irrfahrt steigt Bill über eine Treppe in den Nachtclub hinab, in dem sein alter Schulfreund Nick ein Klavierkonzert gibt. Das Bild ist in rotem Farbton gehalten, unterstützt durch eine, auch in vielen anderen Szenen auftauchende, intensive, warme Weihnachtsbeleuchtung (siehe Abb. 3a). Rot als Farbe steht besonders für Nähe, Erotik, Leidenschaft und Abenteuer und stellt somit im Film das „erotische Moment“ und die „Überwindung des Alltags“ dar (Jacke, 2009, S.318, Fischer, 2009, S.466). Diese Charakteristika decken sich in Freudscher Sprache mit dem „Es“, das ausschließlich nach dem Lust-Prinzip handelt und unbewusst bleibt (vgl. Kapitel 2.1).
In anderen Szenen wiederum dominiert blaue Farbe. Nach dem Besuch im Nachtclub landet Bill bei einer Prostituierten und erhält dort einen Anruf von seiner Frau, der ihn an seine Treue als Ehemann erinnert. Alice ist dabei in blaues Licht getaucht. Blau als kalte Farbe steht für Distanz, Vernunft und taucht im Film meist dann auf, wenn soziale Realitäten im Widerspruch zu den impulsiven Wünschen und Träumen der Protagonisten stehen. Neben der eben genannten Szene, geschieht das u.a., als Alice ihrem Mann ihre Seitensprung-Fantasien beichtet, als sie nach einem erneuten Traum von ihrem schlechten Gewissen geplagt wird (siehe Abb. 3b), sowie als die Ballmaske von Bills nächtlichem Ausflug unvermittelt in der familiären Wohnung auftaucht. Nach Freudschem Verständnis entsprechen diese Szenen sehr stark den moralischen Forderungen eines „Über-Ichs“, denn die Protagonisten werden in Grenzsituationen mit den gesellschaftlichen Normen und Werten konfrontiert, die sich vor allem in ihrer Vorstellung von Ehe und Familie äußern. Dadurch, dass Kubrick einen Teil der Gesellschaft, nämlich die gehobene Schicht um Charakter Victor, als pervertiert und triebgesteuert darstellt, deutet er an, dass es im Film weniger um gesellschaftliche Normen geht, als um die Wünsche und Werte des Ehepaars in ihrem paarpsychologischen Mikrokosmos. Hierbei tritt während des Films viel „Verdrängung“ im Sinne Freuds auf, da die Sexualität in der Ehe von Bill und Alice nicht ausgelebt wird.
Durch die im Allgemeinen intensive Farbgebung in weiten Teilen des Films, die an surrealistische Malereien erinnert, bekommt der Film seinen „traumhaften“, fast psychedelischen Charakater (vgl. Fischer, 2009, S.459). Zudem zeigt Kubrick in verschiedenen Szenen immer wieder bunte Malereien an den Wänden, die diesen Eindruck verstärken.


Abb 3(a/b/c). Farbgebung in E
YES WIDE SHUT

Gegen Ende des Films, als es zu einer zunehmenden, bewussten Aufarbeitung der Geschehnisse kommt, normalisiert sich die Farbgebung. Rote und blaue Elemente treten nur noch vereinzelt und teils an Gegenständen auf (siehe Abb. 3c, Handtuch und Fenster, oder bspw. der Billardtisch in Victors Haus). Man könnte interpretieren, dass die Charaktere im Verlauf des Films zunehmend rational handeln und ihr „Ich“ im Sinne Freuds stärker ausgeprägt ist. Der rationalistische Aussprachedialog zwischen Bill und Alice im Spielwarenladen, der den Schluss des Films markiert, trägt weiter dazu bei. Die unenthusiastisch ausgesprochenen letzten Worte des Films bzw. des Paars lauten nicht umsonst „Was sollten wir tun? Ficken.“. Paradox scheint hier die rationale Interpretation der eigentlich doch per se spontan-triebhaften Sexualität.
Auch die Filmmusik unterstützt das psychische Innenleben der Charaktere in EYES WIDE SHUT. So taucht György Ligetis minimalistisches Klavierstück „Musica Ricercata II: Mesto, Rigido e Cerimonale” immer dann auf, wenn Bill erkennen muss, dass er gegen das Gesetz (der geheimen Gesellschaft) verstoßen hat.
3.2  Freie Assoziation – Das irrationale Element im Film
Auch wenn EYES WIDE SHUT kein genuin surreales Werk ist, so verzichtet Kubrick an einigen Stellen des Films doch bewusst auf Logik. In den Film sind viele surreale Details eingearbeitet, die dem Zuschauer beim ersten Sehen zum Teil nicht bewusst werden. Die Gestaltung arbeitet teils mit mehreren logischen Ebenen und erzeugt dadurch einen gewissen „Hypnose-Effekt“ (Ager, 2007). Ein Beispiel für die „fraktale Logik“ (vgl. ebd.) im Film findet sich bei Victors Party, als Bill der drogenabhängigen Mandy zu Hilfe kommt. Diese liegt nackt auf einem roten Sessel. Im Hintergrund befindet sich an der Wand ein Gemälde, das ebenfalls eine nackte Frau vor rotem Hintergrund zeigt (siehe Abb.4). Wenige Szenen später sieht man Bills Frau Alice halbnackt auf einem roten Bett liegen, während sie einen Joint raucht. Darüber hinaus gibt es im Film zahlreiche Anschlussfehler und Perspektivwechsel, die als intendiert angenommen werden können und beim Rezipienten Desorientierung hervorrufen (vgl. Fischer, S.459).

Abb 4. Fraktale Logik in EYES WIDE SHUT

Auch der Einsatz der Filmmusik lässt sich logisch nicht klar zuordnen. Was zu Beginn als klassische „Score“, d.h. Musik außerhalb der Filmrealität, erscheint wird im Laufe der Sequenz zu innerfilmischer, diegetischer Musik, indem ein Charakter sie z.B. durch das Betätigen eines Radios abschaltet (vgl. Ager, 1999).
Neben den gestalterischen Mitteln, entbehrt auch die Handlung zum Teil der Logik. Zumindest wirft sie Fragen auf, die nicht eindeutig beantwortet werden können. Wie konnte die Ballmaske auf Bills Bett gelangen? Wieso träumt Alice genau das, was Bill bei der Orgie offensichtlich real erlebt? Wurde Mandy ermordet? Und warum fehlt nach ihrem Verschwinden auch die Prosituierte? Warum genügt es, dass Alice Fantasien von anderen Männern hat, dass Bill sich in die Nacht stürzt, um fast tatsächlich fremd zu gehen? Und zuletzt vielleicht eine Frage, die sich nicht auf die Handlung, sondern auf das rezipierende Publikum bezieht: Warum stören wir uns nicht daran, dass Bill ein blasser Charakter bleibt, der meist stumm und ohne klare Motivation durch den Film irrt? Weil er vom charismatischen Tom Cruise gespielt wird? Oder etwa weil wir ständig hoffen, dass im nächsten Moment etwas Aufregendes oder Erotisches passiert, was nicht der Fall ist.
 
4  Kritische Rezeption des Films
Eben weil jenes Warten auf eine „voyeuristische Sexshow“ (Müller, 1999, zitiert in: Ruschel, 2002) unbefriedigt bleibt, wurde der Film von einer Reihe von Kritikern positiv aufgenommen. So erkennt Müller (ebd.) ein „anstrengendes, aber geniales Kinostück“ und Ager (vgl. 1999) sieht den Film als eine Aufforderung an das Publikum zur eigenen Reflexion über Themen wie Liebe, Beziehung, Sexualität und Schuld. Dies ist wohl auch, was Hülk (2008, S.204) meint, wenn sie EYES WIDE SHUT einen „Film über das Kino, [einen] Film über Amerika, vor allem aber [einen] Liebesfilm“ nennt.
Neben diesen sehr positiven Bewertungen wurde der Film jedoch auch oft negativ aufgefasst. Während Ager (1999) noch das langsame Tempo und die ästhtischen, an Malereien erinnernenden Bilder lobt, wird genau dies von den Kritikern des Films bemängelt. So schreibt der NDR Kulturreport, EYES WIDE SHUT sei ein „quälend langes Zweieinhalb-Stunden-Opus mit endlosen Dialogen, die um ein (einziges) unerhörtes Problem kreisen“ (zitiert in: Ruschel, 2002). Außer der Länge wurde vor allem der „todernste“ (The Spectator, 1999) Umgang mit der Thematik „Liebe und Sex“ kritisiert, der den Film konservativ und nostalgisch erscheinen ließe:
„Mit New York (Setting des Films, Anm. d Verf.) hat sein Film wenig zu tun; er erinnert […] an eine Zeit, als die Sexualität noch ein Geheimnis war.“
DER SPIEGEL, 29/99
5  Rezeption Freudscher Psychoanalyse
Angesichts der Begeisterung, welche Kubricks für die Freudsche Psychoanalyse empfand (vgl. u.a. The Spectator, 1999, Ruschel, 2002), sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass EYES WIDE SHUT in die Tradition der von psychoanalytischem Gedankengut inspirierten Werke einzuordnen ist. Ebenso wie Kubrick sah sich auch Freud Zeit seines Lebens immer wieder mit Kritikern konfrontiert. So wurde ihm von christlicher Seite lange Zeit der Vorwurf gemacht, eine Religion, den „Pansexualismus“, gestiftet zu haben. Dieser sei „heidnischen Charakters“ und durch „Naturanbetung, Dämonologie, chontischer Tiefenglaube, dionysische Sexualvergötterung […]“ geprägt (Friedell, zitiert in Nitzsche, 1997, Kt. 1). Auch nach Freuds Tod wurde immer wieder Anstoß an seinen Anschauungen genommen. So bezeichnete der ZEIT-Autor Dieter Zimmer die Psychoanalyse 1986 in seinem Buch „Tiefenschwindel“ als „Pimmel-Philosophie“ (ebd.). In eine ähnliche Richtung gehen die häufigen Fehlinterpretationen Freuds von Seiten der sexuellen Revolution Ende der 60er Jahre. Diese beriefen sich eher auf ein Verständnis der Psychoanalyse, wie sie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse vertraten, als direkt auf Freud (vgl. Reiche 1988, 49, zitiert in Nitzsche, 1997, Kt. 2). Bei beiden steht die idealistische Forderung einer „Befreiung des Sexuellen“ im Zentrum, wobei Triebunterdrückung als schädlich angesehen wird. In der von ihnen angestrebten, utopischen Gesellschaftsform wird ein solcher Verzicht auch nicht mehr als nötig angesehen, ihr Ziel ist eine „befreite Sexualität“. Marcuse (vgl. 1971, 40, zit. in ebd.) setzt das „Realitätsprinzip“ Freuds (siehe Kapitel 2.1) mit einem gesellschaftlichen „Leistungsprinzip“ gleich. Wenn dies in einer sozialistischen Gesellschaft verschwunden sei, könne es seiner Ansicht nach zu einem freien Ausleben von natürlichen Wünschen nach dem Lustprinzip kommen. Freud hätte hier nach Nitschke deutlich wiedersprochen:
Laut Freud hat das Realitätsprinzip […] keine historische Form. Vielmehr ist von einem „Prinzip“ die Rede, das unter allen historischen Bedingungen gleich bleibt, wenn es auch von Fall zu Fall – im glücklichen wie im un­glücklichen Fall – außer Kraft gesetzt werden (d. h. dem Lustprinzip weichen) kann. […] Freud war Realist. Das heißt, er war […], nicht davon überzeugt, dass der freie Ausdruck unserer Wünsche und Triebe zu universellem Glück führen könnte“. Im Gegenteil […] hielt Freud den „universellen Mord“ für das wahrscheinlichere Ereignis als das universelle Glück.
Nitzschke (1997, Kt. 2).
Freud sollte demzufolge ahistorisch verstanden werden, wenn er sagt, dass sich das „Ich“ in der bewussten Auseinadersetzung mit dem eigenen „Es“, den natürlichen Trieben und Wünschen und den realen Konventionen des Zusammenlebens, dem „Über-Ich“ herausbildet. Wenn nun also die Kritiker von Kubricks EYES WIDE SHUT schreiben, sein Film passe nicht ins New York des 21. Jahrhunderts (vgl. DER SPIEGEL, 29/99), da wir gesellschaftlich mittlerweile freier und natürlicher mit Sexualität umgehen, dann missverstehenen sie den Film nach der Freudschen Tradition. Dadurch, dass Verdrängung und Verzicht ahistorische Motive sind, die in jeder menschlichen Beziehung ihre Relevanz haben, ist der Film in seiner Thematik immer aktuell.
6  Fazit und Schluss
Freud wurde also wegen seines angeblich düster-bösen Menschenbilds (Kapitel 5) kritisiert, in dem der Mensch von Natur aus nach Destuktion und Triebbefriedigung strebt. Auch Kubrik zeichnet in seinen Filmen oft ein dunkles, melancholisches Bild von gesellschaftlich unter-drückten Charakteren. Auf diese Menschenbild angesprochen entgegnete Kubrick jedoch, er wolle die Bezeichnung „Misanthropie“ lieber durch „genaue Beobachtung“ ersetzt wissen (Ruschel, 2003, S.38). Es klingt fast so, als wäre das auch Freuds Antwort auf die selbe Frage gewesen. Letztendlich ist es mit EYES WIDE SHUT vielleicht auch deshalb wie mit einer psychoanalytischen Behandlung: wenn man sich nicht komplett auf sie, also die Analyse, die Selbstbeobachtung einlässt, wird der Film nicht wirken. Das Vertrauen zwischen „Analytiker und Analysand“ (Sponsel, 2011) ist nicht umsonst Grundvoraussetzung einer jeden Therapie. Das ist es, was den Film so schwer zu kritisieren macht. Er verlangt nach blindem Vertrauen gegenüber Kubrick – die Augen weit geschlossen.
 
 
 
Literaturverzeichnis
Ager, Rob (2007). Unseen Reflections. An in depth analysis of Stanley Kubrick’s „Eyes Wide Shut“. URL: http://www.collativelearning.com/EYES%20WIDE%20SHUT%20analysis.html# introduction
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Nitzschke, Bernd (1997). Liebe – Verzicht und Versöhnung. Das Ethos der Entsagung im Werk des Goethepreisträgers Sigmund Freud. In: Liebe und Gesellschaft (Hrsg: H.-G. Pott). Fink Verlag, München 1997, 139-153 URL: http://www.werkblatt.at/nitzschke/text/goethe preis.htm
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Zenz, Rainer (2010). Das Modell des psychischen Apparats nach Freud. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Freud-5.jpg
 


[1] Siehe Kritiken auf der Filmbewertungs-Seite www.rottentomatoes.com (Rottentomatoes, 2011)
[2] Die Handlung des Films kann in dieser Arbeit aus Platzgründen nicht dargestellt werden. Zum besseren Verständnis kann sie u.a. hier nachgelesen werden: http://www.imdb.com/title/tt0120663/
PhilipMeyer

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